Der Kellner stellt ein kleines Tablett auf den Tisch. Meine Frau und ich sitzen in einer Mischung aus Restaurant, Café und Bar im neuseeländischen Picton. Ich habe Pfefferminztee bestellt. Auf dem Tablett stehen nun eine Tasse und zwei Kännchen. In dem einen zieht der Tee; im anderen befindet sich nur heißes Wasser.
Fragend schaue ich meine Frau an: “Gibt es einen Trick, wie man den Tee hier trinkt?” “Keine Ahnung”, entgegnet sie. Als der Kellner das nächste Mal an unserem Tisch vorbeikommt, frage ich ihn: “Warum stellt ihr zwei Kannen auf das Tablett, wenn nur in einer Tee ist?”
Er: “Weil wir das hier so machen!”
Was für eine super Antwort. Denn sie strahlt etwas heutzutage immer Selteneres aus: Den Mut zur Haltung. Etwas so zu machen, wie man es für richtig hält, auch wenn es anderen vielleicht nicht gefällt — und dann trotzdem dazu zu stehen.
Der Gemocht-Werden-Wollen-Virus
Doch viel zu oft sind wir vom Gemocht-Werden-Wollen-Virus befallen. Er manipuliert die Stimme in unserem Kopf: Was denken die anderen über mich, wenn ich das jetzt sage? Oder wenn ich das jetzt mache? Und so biegen wir unser Verhalten zurecht, um bloß nicht anzuecken.
Der Mensch ist in den 300.000 Jahren seiner Zeit auf diesem Planeten immer ein Herdentier gewesen. Das hat die Evolution schlau eingerichtet. Stellen Sie sich das Leben früher vor: Ihre Lebenserwartung war deutlich höher, wenn Sie Teil eines Clans waren. Anders formuliert: Wenn Sie alleine unterwegs waren, verreckten Sie.
Heute pulsiert in unseren Adern immer noch die überlebensnotwendige Sehnsucht, Teil eines Clans zu sein. So gewinnt der Gemocht-Werden-Wollen-Virus zusätzliche Stärke. In allen Lebensbereichen verbiegen sich Menschen und machen Sachen, die sie nicht machen würden, wenn sie Mut zur Haltung hätten.
Aus Angst, den Job zu verlieren, pinkeln wir die Hierarchie-Leiter nicht nach oben — auch wenn es inhaltlich notwendig wäre.
Aus Sorge, dass sich der Lehrer am Kind mit schlechten Noten rächt oder die anderen Eltern sich gegen uns wenden, halten wir unsere kritischen Kommentare am Elternabend lieber zurück — und nörgeln nur Zuhause hinter vorgehaltener Hand.
Und im Sinne des Mantras “Der Kunde ist König” verbiegen sich die Mitarbeiter von Unternehmen devot, um es jedem recht zu machen — auch wenn die Forderungen des arroganten Kunden völlig überzogen und inakzeptabel sind.
Die Folge: Weichspüler. Wir verlieren an Profil. Es fehlt die Kante. Und damit verlieren Sie auch Ihren Charakter.
Charakter braucht Kanten
Wer sagt eigentlich, dass Sie es jedem recht machen müssen? Für mich gibt es ein Gebot der grundsätzlichen Höflichkeit. Heißt: Andere Menschen respektieren und die Grundregeln des gesitteten Miteinanders achten: Guten Tag, Auf Wiedersehen, Danke, Bitte, Tür aufhalten oder an das Reißverschlussverfahren halten. Das ist die unterste Grenze. Und an die kann sich jeder halten.
Aber ob, wann und für wen Sie die Extrameile gehen, kann nur eine Person entscheiden: Sie selbst. Denn Respekt braucht Grenzen.
Sie müssen nicht jeden gewinnen. Für mich habe ich deswegen als Motto formuliert: Einer reicht!
Ich muss zum Beispiel nicht der beste Ehemann der Welt sein. Mir reicht es, wenn ich der beste Ehemann für meine relevante Welt bin; nämlich für meine Frau. Mein Herz und meine Liebe schreien lauthals: Eine reicht!
Ich muss auch nicht der beste Berater der Welt sein. Mir reicht es, wenn ich der beste Sparringspartner für meine relevante Welt bin; nämlich für die Kunden, die Lust darauf haben, mit mir zusammen zu arbeiten. Wenn ich einen Vortrag vor 300 Geschäftsführern halte und nur einer danach ein Projekt mit mir machen will: Einer reicht!
Ich muss auch nicht der beste Autor der Welt sein. Mir reicht es, wenn ich die besten Texte für meine relevante Welt verfasse; ich schreibe nämlich primär, um selber klar zu werden — und freue mich über jeden, der Lust hat, diese Texte ebenfalls zu lesen. Wenn Sie bereits bis hier hin gelesen haben, sind wir schon zu zweit, obwohl eigentlich reichen würde: Einer reicht!
In allen drei Fällen bin, arbeite und schreibe ich, so wie ich bin. Mit allen Stärken, Schwächen und Kanten. Ich habe keine Lust, mich zu verbiegen. Oder etwas vorzutäuschen.
Weil wir das hier so machen
Doch wer den Mut hat, Haltung zu zeigen, gewinnt nicht immer. Im Gegenteil: Das Mund-Aufmachen hat mich sicherlich auch schon um den ein oder anderen Auftrag gebracht. Aber will ich überhaupt mit Menschen arbeiten, denen Klartext, Wahrhaftigkeit und Offenheit unwichtig sind? Die sich nicht konstruktiv, hart in der Sache und fair zum Menschen streiten wollen? Nein!
Und deswegen gefällt mir die souverän-schroffe Antwort des Kiwi im Café in Picton:
Weil wir das hier so machen!
Eines noch...
Das Stärkste,
was Sie tun können, ist:
Gegenwart machen!
Für und mit den Menschen.
Weitere Videos sowie meine Serie #CappuccinoFriday finden Sie auf meinem YouTube-Kanal.