Pflicht zum Widerspruch

Man pinkelt die Hierarchie-Leiter nicht nach oben. Doch was ist, wenn die Meinung „da oben“ falsch ist? Wenn Sie sogar rechtswidrig ist? Schnell geraten Sie in innere Konflikte. Wollen Klartext reden. Scheuen gleichzeitig die möglichen Konsequenzen. Doch die entscheidende Frage bleibt: Wenn Sie ein Problem erkannt haben, wie lange warten Sie, bis Sie es ansprechen? 


Mit Mitte 20 wurde bei mir ein Schilddrüsen-Krebs diagnostiziert. Doch vor der Bedrohung durch den Krebs hatte ich zunächst gar nicht so viel Angst. Mehr Sorgen machte mir das Risiko, dass ich durch die OP meine Stimme verlieren könnte. Denn der Stimmbandnerv verläuft in unmittelbarer Nähe der Schilddrüse.

Endlich ein Termin in der Klinik. Ich sitze im Sprechzimmer des Spezialisten und frage: „Werden Sie meinen Stimmbandnerv mit Neuromonitoring während der OP darstellen?“ Diese Technik ermöglicht es, während der Operation die Funktionsfähigkeit des Nerves zu überprüfen. Für mich ein wichtiges Argument, um mich zumindest sicherer zu fühlen. Der Arzt antwortet: „Nein, das tue ich nicht.“

Ich hinterfrage ihn und bestehe darauf, dass ich diese Technik gerne verwendet wissen möchte. Resolut fährt er mich an: „Wie kommen Sie überhaupt dazu, meine Kompetenz in Frage zu stellen und beurteilen zu können, wie die Operation abzulaufen hat?“ Damit war die Beziehung zu diesem Möchtegern-Arzt für mich vorbei. Mit den Worten „Von Ihnen werde ich mich nicht operieren lassen“ verabschiede ich mich von ihm. Wer keinen Widerspruch aushält, verliert meinen Respekt.

Wenn ich an diese Situation zurückdenke, dann war das nicht leicht. Die Diagnose Krebs hing wie eine dunkle Wolke über mir. Ein diffuses Gefühl von Ungewissheit, Unsicherheit und Angst vermischte sich mit Kampfeswille, Motivation und der Bereitschaft, alles zu geben, um gesund weiter zu leben. Und dann begegnet Dir auf einmal der lebensrettende Spezialist in einer herablassend-arroganten Art und Weise, die Deinen hoffnungsfrohen Optimismus mit Füßen tritt.

Ich fand zum Glück am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg einen Spezialisten, der mir sympathisch war und der jede OP mit Neuromonitoring durchführte. Und Gott sei Dank: ich bin seit vielen Jahren gesund - und konnte meine Stimme behalten.

War es schlau von mir, den Mund aufzumachen und in die Meinungsverschiedenheit einzusteigen? War es richtig, aufzustehen und sich nicht vom ersten Arzt operieren zu lassen? Wie hätten Sie sich in dieser Situation verhalten?

Obrigskeitshörigkeit

Die Frage ist sicherlich nicht einfach zu beantworten, wenn Sie nicht selber in der Situation sind. Und ich hoffe, dass Ihnen solche extremen mentalen Trainingsräume, in denen es um Leben und Tod geht, erspart bleiben. Doch die gleichen Herausforderungen begegnen Ihnen auch im Alltag.

Ihr Chef trifft eine Entscheidung. Sie haben viel mehr Informationen als er und erkennen, dass diese Entscheidung falsch ist. Sie ahnen: mit seiner Entscheidung wird das Projekt vor die Wand fahren. Machen Sie jetzt den Mund auf und weisen Sie ihn auf den Fehler hin? Oder halten Sie lieber die Klappe, da Sie nicht wollen, dass Ihre Karriere an einem gläsernen Dach stecken bleibt?

Grundschule - Elternabend mit der Klassenlehrerin. Ihr Sohn hatte sich mehrfach bei Ihnen beschwert sich, dass die junge Dame ständig die Mädchen aus der Klasse bevorzugt behandelt. Machen Sie jetzt den Mund auf und stellen Sie sie zur Rede? Oder beschwichtigen Sie Ihren Sohn und halten lieber die Klappe, weil Sie befürchten, dass die Lehrerin sich mit schlechten Noten rächen könnte? Und überhaupt: Sollte man in der heutigen Zeit der Emanzipation lieber gar nichts gegen Frauen sagen, da man sofort als „frauenfeindlich“ abgestempelt wird?

Statusunterschiede sind der wesentliche Verhinderer für Klartext. Wir sind obrigkeitshörig. Brav buckeln wir nach oben oder ordnen uns eine Mehrheit unter, auch wenn wir eine andere Meinung haben. Das ist verständlich. Und es ist falsch!

Probleme können Sie nicht aussitzen

Wenn es um heikle Botschaften geht, sind zwei Zeitpunkte kritisch.

  1. Problem erkannt. Wenn Ihnen das Verhalten eines Kollegen, Nachbars oder Familienmitglieds nicht gefällt. Oder Sie erkennen, dass irgendetwas schief läuft und sich zu einem größeren Problem entwickeln könnte.

  2. Problem angesprochen. Etwas erkennen oder wissen reicht nicht. Entscheidend ist, dass Sie auch den Mund aufmachen und es ansprechen.

Die Kunst ist, den Zeitabstand zwischen „Problem erkannt“ und „Problem angesprochen“ möglichst kurz zu halten. In manchen Situationen ist es ratsam, eine Nacht über Ihre Entscheidung zu schlafen, bevor Sie handeln. Erfahrungsgemäß ist das der längste Abstand — und die Ausnahme. In der Regel sollten Sie Probleme viel schneller ansprechen.

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Stellen Sie sich vor, wie die Welt wäre, wenn Menschen Probleme zügig ansprechen. Bei der Beratung McKinsey gehört die Pflicht zum Widerspruch („obligation to dissent“) seit vielen Jahren zur Unternehmenskultur. Im Hedgefonds Bridgewater des Milliardärs Ray Dalio wird nicht nur die Pflicht zum Widerspruch gelebt, sondern absolute Transparenz. Ständig bewerten sich die Mitarbeiter gegenseitig. So werden Probleme, Qualitätsmängel, Zeitverschwendung und Co. sofort aus dem Weg geräumt. Doch viele Menschen reagieren bei diesen beiden Unternehmen zurückhaltend, weil Sie diese Art des Miteinanders als kühl und rational — in gewisser Weise als unmenschlich — empfinden. Wirklich?

Überlegen Sie einmal: Wie viel unnötiger Ärger könnte Ihnen erspart bleiben, wenn alle Klartext reden?

Doch in der Realität sind wir weit von Klartext entfernt. Viele Menschen erkennen zwar die Probleme. Doch sie halten den Mund. Als würde dadurch ihr Umfeld nicht mitbekommen, dass irgendetwas nicht stimmt. Absurd. Denn selbst wenn Sie nichts sagen, wird das Problem Auswirkungen auf Sie und Ihr Umfeld haben. Prüfen Sie dazu folgenden Satz:

Alles, was Sie nicht aus-sprechen, werden Sie aus-leben!

Wenn das Verhalten Ihres Kollegen Sie richtig nervt und Sie es nicht ansprechen, wird sich Ihr Verhalten ändern. Sie meiden die Nähe. Weichen Gesprächen aus. Unterstützen ihn nicht mehr so gerne, wenn er Ihre Hilfe braucht.

Wenn Ihr Lebenspartner etwas macht, das Ihnen nicht gefällt oder Sie gar verletzt — und Sie es nicht ansprechen — werden Sie Ihr Verhalten verändern. Vielleicht fangen Sie an, ebenfalls verletzend zu werden. Oder Sie beginnen Streitereien wegen anderen Nichtigkeiten. Oder Sie finden sich plötzlich in den verständnisvollen Armen einer Affäre wieder, die Ihnen all das gibt, was Sie in Ihrer Beziehung so sehr vermissen.

Pflicht zum Widerspruch

Wenn Sie also Probleme gar nicht verheimlichen können, da Sie sie sowieso ausleben, dann können Sie auch gleich den Mund aufmachen. So haben Sie zumindest die Chance, gemeinsam den Missstand zu beheben.

Die Herausforderung ist: das Ausleben geschieht meist unbewusst. Wenn Sie dagegen den Mund aufmachen und das Problem ansprechen, dann ist das eine aktive Entscheidung, die Sie treffen. Und Entscheidungen kosten Kraft. Überwindung. Und somit auch eine gewisse Form von Mut.

Weichen Sie dieser Entscheidung trotzdem nicht aus. Denn sie ist richtig, auch wenn Sie mal mehr, mal weniger schmerzhaft ist. Die meisten Menschen scheuen den Konflikt. Doch Sie haben die Pflicht, den Mund aufzumachen, wenn Sie anderen Menschen helfen wollen.

Ein Mensch nervt Sie mit seinem Verhalten. Wie soll er sich denn verbessern können, wenn Sie ihm nicht mal die Chance dazu geben? Und Sie geben ihm die Chance, indem Sie ihn auf sein Missverhalten hinweisen.

Bildhaft gesprochen: Sie stehen vor Ihrem Team und halten eine Rede. Die Leute schmunzeln. Tuscheln. Irgendetwas scheint im Busch zu sein. Doch Sie wissen nicht, was. Verunsichert machen Sie trotzdem weiter. Nach dem Vortrag gehen Sie auf Toilette. Und merken dort: Ihr Hosenstall war die ganze Zeit offen.

Wie doof ist das denn? Und wie super wäre es gewesen, wenn Sie jemand diskret darauf hingewiesen hätte. Problem erkannt - Problem schnell angesprochen. Dann hätten Sie ihn geschlossen und einen super Vortrag gehalten. Der Hinweis des Kollegen hätte sich für Sie wahrscheinlich unangenehm angefühlt. Aber dieser kurze Schmerz ist allemal besser, als zu wissen, dass Sie die ganze Zeit wie ein Heiopei mit offener Hose vor Ihren Leuten gestanden hatten.

Kultur des gepflegten Streitens

Es wird dringend Zeit, dass wir lernen, besser mit heiklen Botschaften, Meinungsverschiedenheiten und Konflikten umzugehen. Doch leider haben wir noch ein fast neurotisches Verhältnis zum Streiten.

Entweder reagieren wir übertrieben empfindlich. Dann sind alle auf einmal Randgruppen, die sich diskriminiert fühlen. Klartext wird ständig als persönliche Härte verstanden. Rechte Meinungen werden sofort als rechtsradikales Gedankengut verurteilt. Einzelne Worte werden aus dem Kontext gerissen und in der Diskussion empört zerrissen.

Oder wir fügen so viel verbalen Weichspüler in die Gespräche, dass am Ende niemand mehr weiß, was jetzt eigentlich gemeint ist. Anstatt klarer Ansagen, was geht und was nicht geht, gibt es sowohl-als-auch-Gelaber. Statt mutiger Entscheidungen wird rumgeeiert. 

Mund aufmachen ist eine Frage von Respekt. Und zwar Respekt Ihnen selbst gegenüber, dass Sie sich nicht innerlich verbiegen, sondern Haltung zeigen. Und Respekt anderen gegenüber, dass Sie Ihnen durch Klartext dabei helfen, besser zu werden.

Wenn Sie also in der nächsten Diskussion auf eine andere Meinung treffen, dann hören Sie der Person doch erstmal zu. Schieben Sie Ihre eigene Meinung zur Seite. Seien Sie neugierig: wie kommt er auf diese Meinung? Versuchen Sie, zu verstehen, warum die andere Person so denkt, wie sie denkt. Vielleicht entdecken Sie ja neue Perspektiven. Seien Sie dann so flexibel, dass Sie Ihre eigene Meinung bei Bedarf korrigieren.

Wenn Sie trotz Zuhören und Verstehen wollen zum Schluss kommen, dass Ihre Meinung doch die richtige ist: dann stehen Sie auch dazu und verteidigen Sie sie. Auch wenn das am Ende vielleicht dazu führt, dass Sie und Ihr Gesprächspartner in dieser Sache keinen gemeinsamen Nenner finden.

Es ist Ihre Pflicht, den Mund aufzumachen, wenn etwas falsch ist. Klartext reden ist menschlich. Wehret den Anfängen!

Eines noch...
Das Stärkste,
was Sie tun können, ist:

Gegenwart machen!
Für und mit den Menschen.

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