Ein soziales Erdbeben bahnt sich an – und keiner spricht’s aus
Die Rente ist sicher? Die Wahlprogramme von CDU, SPD und GRÜNEN erwecken diesen Eindruck. Da lesen wir:
CDU: „Mit der Union wird es keine Rentenkürzungen geben.“
SPD: „Wir sorgen dafür, dass das Niveau der gesetzlichen Rentenversicherung dauerhaft bei mindestens 48 Prozent gesichert wird.“
GRÜNE: „Die Menschen in diesem Land sollen sich auf stabile Renten verlassen können (...) daher werden wir das gesetzliche Rentenniveau bei mindestens 48 Prozent halten.“
Und die Afd spricht strebt „eine Rentenversicherung an, mit der Erwerbstätige sich wieder einen finanziell gesicherten Lebensabend erarbeiten können“ und stellt eine „signifikante Erhöhung“ der Renten in Aussicht.
Die Rente ist also sicher? Sollten Sie daran glauben, habe ich eine schlechte Nachricht für Sie: Das ist eine Lüge! Denn bereits seit Dekaden bahnt sich ein soziales Erdbeben an. Gute Führung setzt auf Wahrhaftigkeit. Doch kein Politiker traut sich, die unangenehme Wahrheit auszusprechen.
Dritter Lebensabschnitt
Die Fakten: Die Rente gilt als dritter Lebensabschnitt. Nachdem das Arbeitseinkommen weggefallen ist, finanziert die Rente den Lebensunterhalt. Aber wie lange dauert dieser dritte Lebensabschnitt?
Schätzen Sie mal: Wie viele Jahre haben männliche Rentner 1960 im Schnitt Rente bezogen? Es waren rund 10 Jahre.
Im Zeitraum von 1960 bis 2020 hat sich die Rentenbezugsdauer in Westdeutschland mehr als verdoppelt.
Dieser Trend wird anhalten. Denn die Menschen werden immer älter. Es stellt sich die Frage: Wie lange soll oder gar muss man arbeiten? Ab wann ist der Eintritt ins Rentenalter gerecht?
Die Jungen bezahlen die Alten
Das könnte jeder für sich entscheiden, wenn wir ein kapitalstockbasiertes Rentensystem hätten. In diesem Fall würde jeder für seine persönliche Rente einsparen, ähnlich wie es beispielsweise Freiberufler tun, da sie am Rentensystem nicht teilnehmen und privat vorsorgen müssen. Wenn jeder seinen eigenen Rententopf füllt, kann auch jeder selbst entscheiden, wann genug genug ist.
Doch im deutschen Rentensystem zahlt die arbeitende Generation Rentenbeiträge, die dann sofort an die in Rente befindliche Bevölkerung ausgezahlt werden. Das heißt auch, dass die Generation, die heute einzahlt, später ihre Rente von der Generation finanziert bekommt, die dann arbeitet. Das kann nur funktionieren, wenn die Anzahl der Einzahlenden und die der Bezugsberechtigten in einem gesunden Verhältnis liegt.
Doch durch den eingangs beschriebenen demografischen Wandel gerät das Rentensystem immer mehr in Schieflage. Die Rente ist durch die Beitragszahlungen der aktiven Arbeitnehmer schon längst nicht mehr finanzierbar. Der Staat muss die Rente mit besorgniserregenden Zuschüssen am Leben halten.
Im Jahr 2016 machten die Zuschüsse 69,7 Milliarden Euro aus. Für das Jahr 2025 wurden in der Finanzplanung des Bundes 97,6 Milliarden Euro für Zuschüsse zur Rente vorgesehen. Das ist ein Zuwachs von 27,9 Milliarden Euro (+ 40 Prozent) in neun Jahren.
Rentenniveau im Sinkflug
Wenn ich mit meinen Kunden spreche, höre ich von einigen im vertrauten Gespräch: Wäre es nicht am klügsten, wenn wir alle den Gürtel enger schnallen und uns mit einem einfachen Leben zufriedengeben würden?
Diesen Gedanken halte ich nicht nur für falsch, sondern für gefährlich. Auch wenn sich der Klassiker “Geld allein macht nicht glücklich” immer wieder bewahrheitet: Als Gesellschaft müssen wir danach streben, sonst gehen wir im internationalen Wettbewerb mit anderen Ländern unter. Finanzieller Spielraum macht flexibel und eröffnet Möglichkeiten; für einen Menschen wie für eine ganze Gesellschaft.
Insofern kann und darf es nicht unser Ziel als Land sein, Armut zu vergrößern. Und auch nicht, Armut zu bekämpfen, indem wir Vermögenden oder Gut-Verdienern noch tiefer in die Tasche greifen. Im Gegenteil: Wir sollten daran arbeiten, dass immer mehr Menschen sich Wohlstand erarbeiten können. Wenn einzelne bewusst auf Wohlstand verzichten wollen – okay. Aber ein Konzept für die Gesellschaft kann das nicht sein.
Doch in Richtung Alter wird das mit dem Wohlstand zunehmend schwieriger. Denn das Rentenniveau befindet sich im Sinkflug. Damit ist das Verhältnis der durchschnittlichen Rente eines Neurentners zum durchschnittlichen Bruttoverdienst eines Arbeitnehmers im selben Jahr gemeint. Ein Rentenniveau von 100 Prozent würde bedeuten, dass die durchschnittliche Rente eines Neurentners genauso hoch ist wie der durchschnittliche Bruttoverdienst eines Arbeitnehmers. Im Jahr 1997 lag das Rentenniveau bei etwa 54 Prozent. Im Jahr 2017 betrug es nur noch etwa 48 Prozent. Nach den im Rentenversicherungsbericht 2021 dargestellten Modellrechnungen (mittlere Modellvariante) wird das Rentenniveau bis zum Jahr 2035 weiter sinken – dann auf 45,8 Prozent.
Wer soll das bezahlen?
Zum Glück wird die Frage, wer das alles bezahlen soll, nicht jedes Jahr aufs Neue gestellt. Denn dann müsste gleich auch die zweite Frage gestellt werden: Wer kann das überhaupt noch bezahlen? So haben wir uns daran gewöhnt, dass die Sozialabgaben automatisch vom Bruttolohn abgezogen werden und nur der Nettobetrag auf unserem Konto landet. Im Jahr 2020 lagen die Sozialabgaben insgesamt bei 39,75 Prozent (darin enthalten ist nicht nur die Rente, sondern auch weitere Sozialleistungen wie Pflege-, Arbeitslosen- und Krankenversicherung). Diesen Betrag teilen sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Laut einer Berechnung des Instituts Prognos sollen die Sozialabgaben auf 46,0 Prozent im Jahr 2040 steigen. Stand heute bedeutet das im Jahr 2040 eine Finanzierungslücke von 173 Milliarden Euro.
Irgendwie merkwürdig: Den Menschen wird ein beträchtlicher Anteil vom Lohn für die Rente abgezogen – und gleichzeitig heißt es: Die Rente wird nicht reichen. Wieso kommt es hier nicht längst zu Tumulten? Die schmerzhafte Wahrheit, dass die Rente nicht sicher ist, ist seit Jahrzehnten bekannt. Doch der Deutsche ist zäh im Ertragen.
Natürlich lässt sich nicht sicher vorhersehen, wie die Zukunft sein wird. Doch wenn Sie sich die skizzierten Themen anschauen, wie geht es Ihnen dabei? Der Kölsche Optimist in mir denkt: „Et hätt noch immer jot jejange“.
Gefährliche Spirale
Gleichzeitig macht sich ein flaues Gefühl in meinem Bauch breit. Denn die Themen können sich gegenseitig beeinflussen und zu einer gefährlichen Spirale werden. Alternde Bevölkerung, weniger Steuerzahler, mehr Rentenbezieher, höhere Steuern und Sozialabgaben, Industriestandort Deutschland wird zunehmend unattraktiv für die Unternehmen, Produktionsstätten schließen, qualifiziertes Personal wandert ab, Fachkräfte aus dem Ausland haben keine Lust, nach Deutschland zu kommen, Unternehmen leiden noch mehr unter Personalmangel, die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands als Wirtschaftsmacht wird beeinträchtigt …
Genug Kopfkino. Es wird Zeit, dass Deutschland ins Handeln kommt. Denn Fakt ist: Der Mensch ist das Problem – und die Lösung zugleich. Es werden schnell zu viele Rentner, die Geld aus dem Rentensystem beziehen. Wir brauchen also mehr Menschen, die in das Rentensystem einzahlen. Manche fordern: Mehr Frauen müssen wir aus der Teilzeit- in Vollzeitstellen bringen. Doch damit beide Elternteile Vollzeit arbeiten können, bräuchten wir noch mehr Personal, um die Kinderbetreuung sicherzustellen.
Andere fordern, mehr ausländische Fachkräfte anzuwerben. Das macht jedoch nur dann Sinn, wenn diese nicht ins Sozialsystem migrieren, sondern aktiv am Arbeitsmarkt teilnehmen und Steuern zahlen. Und schließlich sind manche der Meinung: Die Deutschen müssen mehr Kinder bekommen, um langfristig mehr Einzahler ins Sozialsystem sicherzustellen.
Es bliebe noch die Möglichkeit, das Renteneintrittsalter nach hinten zu verschieben. Bis 2031 steigt es schrittweise auf 67 Jahre. In Frankreich gingen die Franzosen auf die Barrikaden, weil Macron das Renteneintrittsalter von 62 auf 64 Jahre erhöhen wollte. Und ich frage mich, wie der Körper eines Maurers, Stahlkochers oder anderer körperlich arbeitender Menschen so lange durchhalten soll ...
Wie geht es weiter?
Ich bin trotz all dieser Maßnahmen, die mehr oder weniger bereits laufen, skeptisch, dass es ausreichen wird. Im Jahr 2021 lagen die durchschnittlichen Rentenbezüge bei mickrigen 1218 Euro (Männer/West) bzw. 809 Euro (Frauen / West). Wenn das Rentenniveau bis zum Jahr 2035 auf 45,8 Prozent sinken wird, frage ich mich, wie man davon heute und erst recht morgen leben will? Das ist keine Rente, sondern Altersarmut.
Die Rente ist bereits tot und wird durch staatliche Subventionen und politische Lügenfloskeln künstlich am Leben gehalten. In einem Unternehmen würde man das Geschäftsfeld als nicht profitabel bezeichnen. Wenn sich kurz- bis mittelfristig keine Lösungen anbieten, werden solche Geschäftsfelder geschlossen. Das kann für unsere Rente keine Option sein.
Das System war nie dazu gedacht, um einen dritten Lebensabschnitt zu finanzieren, der heute 20 Jahre und mehr dauern kann. Wir brauchen eine radikale Reform, wahrscheinlich sogar eine Sanierung des Systems. Sonst drohen uns in wenigen Jahren Beitragssätze von 25 Prozent – statt 18,6 Prozent im Jahr 2024.
Eigenverantwortung stärken
Eine wichtige Säule muss die private Vorsorge werden. Wir dürfen nicht auf den „starken fürsorglichen” Staat setzen. Wir müssen die Menschen in ihrer Eigenverantwortung stärken und dafür die richtigen Rahmenbedingungen setzen.
Grundvoraussetzung ist eine Banalität: Unsere Wirtschaft muss laufen und die Menschen brauchen angemessen gut bezahlte Arbeit.
Um die Rente auf solidere Beine zu stellen, müssen wir das Konzept der betrieblichen Altersvorsorge ausbauen. So können die Beitragszahlungen von den Sozialabgaben befreit werden.
Bestehende Formate wie die Riester-Rente müssen dringend reformiert werden. Stand heute kann ein Rentner aus einem Riester-Vertrag nur 30 Prozent als Einmalauszahlung erhalten; der Rest muss monatlich ausgezahlt werden. Warum entmündigen wir erwachsende Menschen? Sie müssen selbst entscheiden dürfen, wie viel sie wann von ihrem Geld ausgezahlt bekommen möchten.
Außerdem versuchen die Rentenkonzepte das Unmögliche: garantierte Sicherheit und attraktive Rendite. Das funktioniert jedoch nicht. Garantie frisst immer die Rendite auf. Junge Beitragszahler sollten viel mehr von der Renditekraft der Kapitalmärkte profitieren können. Doch die Versicherungsprodukte sind heute viel zu unrentabel. Wir brauchen Lösungen, die vor allem eines sicherstellen: Wer spart und einzahlt, muss von hohen Renditen und einer attraktiven Rente profitieren!
Die Rentenreform wird schmerzhaft
Der demografische Wandel erhöht den Handlungsdruck von zwei Seiten: Zum einen steigen die Kosten der Rentenversicherung immer weiter. Zum anderen wächst der Anteil der Rentner an den Wählern. Wie auch immer die Rentenreform aussieht: Sie wird schmerzhaft werden; auch für die Rentner.
Es verschlechtern sich also Tag für Tag unsere Chancen, dass die gesetzliche Rentenversicherung auf solide Beine gestellt wird. Denn die Praxis zeigt: Politiker halten – besonders jetzt vor den Wahlen – ihre Fahne in den Wind. Was viele Wählerstimmen bringt, wird versprochen. Der Anteil der Rentner wird weiter zunehmen. Werden sie für schmerzhafte Reformen stimmen, die sie selbst betreffen? Verständlicherweise wohl eher nicht. Wenn also die Rentner bestimmen, wo es lang geht, könnte der Weg für die Gesellschaft in eine Sackgasse führen.
Wer Führungsverantwortung trägt, darf nicht den Anspruch haben, sich alle zum Freund zu machen. Es geht darum, die richtigen Entscheidungen zu treffen; auch wenn diese im Einzelfall zu Unmut führen. Unsere politischen Anführer sind also gut beraten, allen jetzigen Behauptungen zum Trotz die notwendige Rentenreform nach den Wahlen auf den Weg zu bringen. Das Wischi-Waschi-Durchwurschteln muss ein Ende finden.
Noch befürchten wir das soziale Erdbeben nur. Doch was ist, wenn daraus bald ungewollte Realität wird? Dann fragen sich alle verwundert: Wie konnte es bloß so weit kommen?