Wie wir achtsam den Moment verpassen

Keine Zeit zum Lesen? Dann einfach anhören...


Gestern war ich mal wieder an der European Business School, meiner Alma Mater. Es war Tag der offenen Tür und ich wurde eingeladen, einen Vortrag zu halten. Nach dem Vortrag saß ich mit einem Bekannten, der aktuell an der EBS studiert, auf einer Bank. Die Sonne schien, und unser Blick beobachtete den Rhein, der an uns vorbeifloss.

Er erzählte mir: „Kürzlich war ich am Schloss Neuschwanstein. Die Touristen liefen alle mit dem Smartphone rum und schossen zig Fotos vom Schloss. Sie hakten einfach ein Motiv nach dem anderen ab – und liefen so von Sensation zu Sensation.“

European Business School (Oestrich-Winkel)

 

Die Jagd nach digitalen Erinnerungen

Mal Hand aufs Herz: wie machen Sie das? Ich erwische mich immer mal wieder dabei, meinen Hund im Wald gleich sieben Mal zu fotografieren. Oder den Sonnenuntergang im Urlaub gleich 11 Mal. In meinem Smartphone haben sich so über 5.000 Fotos angehäuft. Wie oft schaue ich sie mir an? So gut wie nie...

Wir verhalten uns eben immer noch wie die Steinzeit-Menschen: als Jäger und Sammler. Das digitale Zeitalter bietet uns nahezu unendliche Möglichkeiten, diese Ur-Instinkte intensiv auszuleben. Außerdem reicht es uns nicht, einfach nur irgendwas zu haben. Wir wollen das Beste. Also versuchen wir, möglichst viel zu sammeln, in der Hoffnung, dass die perfekte digitale Erinnerung dabei ist.

Als Privatperson heißt die Beute Fotos, WhatsApp-Posts, Facebook-Freunde, Follower, Likes und Kommentare. Die Beute der Unternehmen trägt den Namen „Daten“.

Beruflich wie privat gilt: Hauptsache sammeln.

 

Digitalisierung raubt den Zauber des Moments

An meiner Uni erzählte der Student weiter: „Die Menschen haben zwar im Smartphone die top Schnappschüsse. Dazu müssten sie jedoch nicht extra nach Neuschwanstein fahren. Solche Fotos könnten sie sich im Internet anschauen. Das was ihnen fehlt ist, die Atmosphäre vom Schloss vor Ort einfach zu genießen“.

An diesem Gedanken ist viel Wahres. Letztes Jahr habe ich mit meiner Frau einige Konzerte besucht: Guns n‘ Roses, Aerosmith, Zucchero, Robbie Williams. Anfangs habe ich einige Momente mit dem Smartphone gefilmt. Und was passierte? Meine Aufmerksamkeit richtete ich auf das Handy – anstatt auf den Künstler und sein Konzert. Ich achtete mehr auf die richtige Perspektive und dass kein Kopf des Vordermanns auf dem Bild war, als die Magie des Augenblicks zu genießen. Im Ergebnis hatte ich dann zwar Fotos und Videos, die mir zeigen, wie das Konzert aussah. Aber ich kann mich nicht mehr richtig erinnern, wie sich das Konzert anfühlte.

Das gleiche erlebe ich in Unternehmen. Beispiel Versicherung. Diese Branche hat in Saus und Braus gelebt und ist in der Vergangenheit punktuell über die Stränge geschlagen. Als Konsequenz wird sie aktuell reguliert. Heißt: viele Formulare. Das Ganze wird dann gleich digitalisiert, damit man alles messen, auswerten und am besten noch vorhersehen kann. Im Ergebnis erlebt man als Kunde einen digitalisierten Prozess, durch den man sich mit dem Berater auf dem Tablet-Computer klickt.

Doch wo bleibt der Zauber des Moments? Anstatt sich auf den Kunden zu konzentrieren und nicht nur das zu hören, was der Kunde sagt, sondern auch das, was er nicht sagt – starren Berater und Kunde auf den Computer. Spätestens wenn dann ein Feld nicht auszufüllen ist oder das Programm abstürzt, hat das Verkaufsgespräch jede Magie verloren.

 

Es gibt Dinge, die können wir nicht messen

In meinen Seminaren erlebe ich immer wieder Menschen, die versuchen, jedes Wort mitzuschreiben, das ich erzähle. Notizen und Fotos von Flipcharts sind sinnvoll. Sie unterstützen unsere linke Gehirnhälfte dabei, mit Struktur, Logik und Verstand die Dinge zu ergründen und uns zu merken.

Aber es gibt noch eine andere Wahrheit. Nämlich was passiert außerhalb Ihrer bewussten Wahrnehmung? Welche Gefühle löst ein Gedanke in Ihnen aus? Dieses „unbewusste“ Lernen halte ich für mindestens genauso wichtig. Und deswegen ist es bei Seminaren, in denen Sie auch Ihre Persönlichkeit entwickeln wollen, hilfreich, nicht nur auf Ihre Notizen zu achten. Sondern den Dingen auch einfach mal ihren Lauf zu lassen.

Oder Sie haben einen offenen, intensiven Moment im Kundengespräch. Wollen Sie jetzt wirklich mitschreiben, was er Ihnen zu sagen hat? Und damit alles zerstören, was an zwischenmenschlicher Beziehung möglich gewesen wäre? Absoluter Quatsch. Wenn ich einen Unternehmer zum ersten Mal treffe und ihn in seiner Firma besuche, habe ich nichts dabei. Keinen Computer, keine Präsentation, keine Unterlagen. Ich will ihm einfach nur begegnen, intensiv zuhören, mich für ihn interessieren und ein gutes Gespräch führen. Meine Notizen mache ich nach dem Treffen.

Und wie sieht es zu Hause aus? Sie sitzen auf dem Sofa, fummeln im Handy rum oder schauen Fernsehen – und Ihr Kind kommt rein. Hören Sie dann nur mit einem Ohr zu, während Sie weiter in die digitale Welt starren – oder drücken Sie auf Pause und schenken Ihrem Kind die volle Aufmerksamkeit? Sie können auf beide Arten zuhören, aber emotional wird es bei Ihrem Kind unterschiedlich ankommen.

 

Achtsamkeit und Digitalisierung – eine Frage der Dosis

Die Digitalisierung wird uns noch viele ungeahnte Möglichkeiten eröffnen. Wir haben die Chance, dass unser Leben durch diese Technologien bereichert und vereinfacht wird. Aber wir sollten es nicht übertreiben, denn Digitalisierung ist kein Allheilmittel. Vor lauter Technik dürfen wir vor allem nicht vergessen, worauf es beim Menschen ankommt: Emotionen, Gefühle, Passion, Leidenschaft und Herzblut.

Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass es eine technische Alternative gibt, die meiner Frau sagt: „Ich liebe Dich“. Da muss ich mir schon selber etwas einfallen lassen, was den Moment magisch und emotional macht. Und das will ich auch. Denn ich will Digitalisierung nur als Bereicherung in meinem Leben haben – nicht als Ersatz.

Verstehen Sie mich bitte richtig: Natürlich werden Sie auch mal durch eine digitale Innovation für emotionale Überraschungen sorgen und Ihr Gegenüber begeistern. Aber ich gehe jede Wette ein: wenn Sie nicht achtsam mit der Technik sind, sondern achtsam den Moment mit Ihrem Mitmenschen verbringen, ihm zuhören und auf ihn eingehen – wird dies viel häufiger magisch sein.

 

Jeden Freitag erscheint eine neue Folge meines #CappuccinoFridays. Mehr dazu auf meinem Youtube-Kanal.