Hat Deutschland ein Charakter-Problem?

Hat Deutschland ein Charakter-Problem?

Meine Frau und ich sind auf dem Weg in den Wald. Machen einen schnellen Abstecher zur Post. Ein Paketdienst-Fahrer hat seinen Lieferwagen für sich bequem vorm Eingang geparkt, so dass wir uns nur mühsam mit dem Auto vorbeiquetschen können, um auf den Parkplatz zu kommen. Meine Frau steigt aus und läuft in die Filiale, während ich rückwärts einparke und den Lieferwagen genau vor mir sehe.

Der Fahrer kommt aus der Post. Bleibt kurz an seiner Fahrertür stehen — und wirft Müll auf die Straße. Unsere Blicke treffen sich. Er zögert. Steigt dann aber doch in sein Fahrzeug.

„Mund aufmachen oder ignorieren?“ schießt mir durch den Kopf. Der Typ sieht mit seinen dunklen Haaren, drahtigem Körper und grimmigem Blick nicht gerade sympathisch aus. Ich entscheide mich trotzdem für „Mund aufmachen“.

Steige aus. Laufe über den Parkplatz und halte den LKW an. „Ihnen ist da vorne Papier aus der Tasche gefallen“ deute ich auf die Stelle. „Was?“ zischt er mir entgegen. Ich wiederhole meinen Hinweis. Er fährt einfach los, ohne etwas zu sagen. Neugierig bleibe ich stehen und beobachte, was passiert. Der Wagen hält. Und der Typ steigt tatsächlich aus und hebt den Müll auf.

Meine Frau kommt wieder aus der Post. Wir steigen ins Auto und fahren dem Lieferwagen hinterher zur Ausfahrt. Und sehen, wie der Typ den Müll wieder aus seinem Fenster wirft…

Woran liegt das nur?

Wenn ich Menschen sehe, die Ihr Zeug einfach in die Umgebung werfen, bekomme ich echt einen Hals. Ist es wirklich so schwer, keinen Müll auf die Straße zu werfen?

Die Aufgabe an sich hat einen Schwierigkeitsgrad, den selbst Grundschüler bewältigen können. Trotzdem sind unzählige Erwachsene nicht in der Lage dazu, ihren Müll in die dafür vorgesehenen Behälter zu werfen.

Aber warum?

Ich habe lange nachgedacht und komme immer wieder bei der gleichen Antwort an: Es ist eine Frage der Haltung. Des Charakters. Und das hat etwas mit Erziehung zu tun. Mit Werten. Und im weitesten Sinne mit Bildung.

Hat Deutschland ein Charakter-Problem?

Mangelnde Verantwortung von Menschen in Unternehmen

Auch in Unternehmen zeigen sich immer wieder Probleme. Und zwar sowohl bei den Führungskräften als auch bei den Mitarbeitern.

Schauen wir uns zunächst die Mitarbeiter an. Immer wieder beklagen sich Führungskräfte in meinen Projekten darüber, dass Mitarbeiter die Dinge nicht richtig zu Ende bringen.

  • Ein Kunde hat ein dringendes Problem. Es ist Freitag. Das Wochenende naht. Und die Mitarbeiterin denkt, sie kann das Problem einfach bis Montag liegen lassen. Wirkung auf den Kunden: Eure Probleme sind uns egal. 

  • Ein Interessent wünscht ein Angebot. Er hat Fragen und bittet den Verkäufer um Rückruf. Der lässt sich jedoch drei Tage Zeit und signalisiert damit: So richtig Bock, Dich als neuen Kunden zu gewinnen, habe ich nicht.

  • Ein Kunde von mir klagt über die Qualität seiner Mitarbeiter. Das Bildungsniveau sei einfach deutlich schwächer als vor 10 Jahren. Ich frage nach: “Wirklich so schlimm?” Seine Antwort: “Es wäre schon gut, wenn sie Brutto und Netto unterscheiden können, wenn sie Projektpläne kalkulieren.” Ohne Worte….

Verantwortung zu übernehmen — auch für die eigene Weiterbildung — ist leider zu einer vom Aussterben bedrohten Tugend geworden.

Nicht jeder ist zur Führungskraft geboren

Doch es sind nicht nur die „bösen“ Mitarbeiter. Auch manche Führungskraft legt ein Verhalten an den Tag — da kann man echt nur mit dem Kopf schütteln.

  • Wirecard Manager fälschen die Zahlen. Tun so, als schwämme die Bank in Milliarden. Dabei fehlten genau diese. Sie heuerten sogar Schauspieler an, die sich als Banker ausgaben, um den Wirtschaftsprüfern einen vorzugaukeln. Die deutschen Aufsichtsbehörden wurden gewarnt. Doch die Bafin unternahm nichts. Und auch ihr “Big Boss”, Bundesfinanzminister Scholz, weilt nach wie vor in Amt und Würden. Fehlverhalten hat anscheinend keine Konsequenzen mehr.

  • Auch in Unternehmen gibt es sie immer noch: Die “Hannibal Lecter” des Konferenzraums. Geschickt nutzen sie alle Register der Macht, um ihre Untergebenen mit Angst und Schrecken in Schach zu halten. Das machen sie natürlich so, dass niemand ihnen etwas vorwerfen kann. Nach außen predigen sie Diversität, Respekt und sonstige politisch-korrekte Phrasen. Doch ihre Taten zeigen ein anderes Bild.

  • Und es gibt auch das genaue Gegenteil. Immer häufiger ist zu hören — und ich erlebe es in meinen Projekten selber, dass es eine zunehmende Konfliktscheu gibt. Viele Führungskräfte trauen sich nicht (mehr?), heikle Botschaften auszusprechen. Hinter vorgehaltener Hand wird als Begründung immer wieder vorgeschoben: Es sei politisch nicht korrekt, dies oder jenes offen anzusprechen. Höflichkeit als Ausrede, keinen Klartext mehr zu reden?

Was ist nur los in unserem Land? In der Gesellschaft? In den Unternehmen? Es schwelt eine Führungskrise.

Wege aus der Verantwortungslosigkeit

Was also tun? Ich denke, wir haben ein Charakter-Problem in Deutschland.

Anstand, Sitte, Respekt, „Gentlemen“-Verhalten oder die Haltung eines ehrbaren Kaufmanns — eigentlich ist alles bekannt, was es braucht, um als Mann und Frau respektvoll mit anderen Menschen umzugehen und verantwortungsvoll zu handeln.

Doch in der Praxis fehlt die entscheidende Zutat: die Umsetzung. Und so schreien jeden Tag neue Minderheiten oder Gruppierungen auf, die sich diskriminiert oder respektlos behandelt fühlen — und fordern volle Aufmerksamkeit und Sonderbehandlung.

Aber macht das Sinn: Wollen wir ständig neue Themen auf die „politisch korrekte“ Agenda setzen und mit erzieherischen Kreuzzügen und neuen Ver- und Geboten die Menschen in jedem Einzelfall zu bestimmten Verhaltensweisen zwingen?

Ich denke: nein! Wir sollten uns lieber auf das besinnen, was Orientierung gibt. Unsere Werte. Und daraus abgeleitete Prinzipien.

Dazu braucht es zunächst eine Besinnung: Was ist uns eigentlich wichtig? Und dann: Bildung. Was bedeuten diese Prinzipien überhaupt? Und wie verhalte ich mich entsprechend?

  • Beispiel: respektvoller Umgang miteinander. Respekt bedeutet, zu akzeptieren, dass mein Gegenüber anders ist als ich. Heißt: dass die Person anders denkt, fühlt und handelt als ich. Das muss mir nicht gefallen. Im Zweifel gilt: leben und leben lassen. Doch wenn mein Gegenüber mich durch sein Verhalten “verletzt”, muss jedem Respekt auch eine Grenze gegeben werden. (Ob es wirklich “verletzt” oder die Person nur übertrieben dünnhäutig ist, müssen wir nochmal separat diskutieren. Bestes Beispiel: Gender-Sprache…)

  • Anderes Beispiel: Zuverlässigkeit. Wenn Du etwas versprochen hast, dann halte es auch. Wenn Du absehen kannst, dass das nicht möglich ist, gehe sofort auf den anderen zu und verhandle das Ergebnis neu.

  • Und noch ein Beispiel: Pause für Vorstände. Es gründete sich eine Initiative, die fordert, dass Vorstände bis zu sechs Monate Pause machen dürfen, um sich um Baby, Pflegefälle oder sonstige private Themen zu kümmern. In dieser Zeit sollen sie ihr Amt auf Pause stellen dürfen, um von jeglicher Haftung befreit zu werden. Nach der gewünschten Auszeit kommen sie dann einfach wieder zurück in Amt und Würden.
    Ein Anführer (m/w/d 😉) kann jedoch seine Verantwortung nie auf Pause stellen. Höchstens die geleistete Arbeit. Dazu braucht es kein Gesetz. Sondern die richtige Unternehmenskultur und eine individuelle Vereinbarung mit den jeweiligen Führungskollegen. Das Gesetz wurde mittlerweile bereits geändert. Ein trauriges Zeichen, dass Verantwortung in Deutschland immer mehr zu einem Wunschkonzert wird.

Wenn unterschiedliche Werte aufeinander prallen

Was machen wir nun, wenn es unterschiedliche Definitionen von Werten gibt? Oder jemand sich nicht an die vereinbarten Werte halten will? Konkret: Wie gehen wir mit dem Postboten um, der Müll auf die Straße schmeißt — und selbst nach einem höflichen Hinweis, den Müll einfach nur aufhebt, um ihn nach zwei Metern wieder fallen zu lassen?

Keine einfachen Fragen. Doch die Anlässe werden zunehmen. Und darauf müssen wir im Kleinen wie im Großen Antworten finden. Als Gesellschaft. Als Unternehmen. Als Familie. Denn eines ist sicher: Werte, gegen die ohne Konsequenz verstoßen werden kann, sind keine Werte. Sondern nur ein naiver Wunsch. Und reichen nicht aus, um uns als Gemeinschaft zusammen zu halten.

Als Gemeinschaft kann es nur ein Ziel geben: friedliche Koexistenz. Und dazu braucht es die richtigen Werte. Welche das sind? Das können wir nur im Diskurs erarbeiten. Lasst uns dafür anstrengen. Jeder von uns.

Sonst beeinflussen die lautesten Brüllaffen die Richtung, in die wir uns als Gesellschaft entwickeln.

Welche Werte sind Ihnen wichtig? Machen Sie dafür auch den Mund auf und zeigen Haltung?


Der Wandel ist scharf. Und die Zukunft unsicher. Es braucht Mut zur Lebensführung, um am Ende sagen zu können: Mein Leben war selbstbestimmt und erfüllend.

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