Eine Gesellschaft ist wertvoll, wenn sie vielfältig ist. Deswegen freue ich mich, dass die Aufrufe während der Corona-Zwangspause zunehmen: Wir müssen etwas ändern!
Pfleger und Ärzte sollen respektvoller behandelt werden. Wir müssen Künstler und Restaurants unterstützen. Die Produktionsketten sollen de-globalisiert werden. Das Hochfahren der Wirtschaft soll klimafreundlich stattfinden.
Sehr gut. Wenn wir die Krise nutzen, um über unsere Gewohnheiten nachzudenken, dann hat sich die Krise schon gelohnt.
Eine Frage der Haltung
Doch so einfach ist es nicht. Denn die Ursache für viele Missstände liegt tief in uns.
Da ist zum Beispiel die Gier nach unbegrenztem Wachstum. Wann ist Geld genug? Wann ist Konsum genug? Für die meisten gilt: Nie! Eine Haltung, die viele haben, jedoch öffentlich nicht zugeben, scheint zu sein: „Natürlich müssen wir die Umweltverschmutzung in den Griff bekommen. Aber ich kann das Klima nicht retten. Dann kann ich auch in einem 450 PS Boliden durch die Gegend fahren.“ Ersetzen Sie das Auto durch beliebige andere Eigenschaften unseres modernen Konsumverhaltens.
Dann ist da unsere Bequemlichkeit. Wir geben es zwar nicht zu, aber wir sind faul. Und das ist auch gut so. Denn Bequemlichkeit ist der wesentliche Treiber für technologischen Fortschritt. Natürlich können Sie die Kaffeebohnen von Hand mahlen. Aber eine elektronische Mühle ist bequemer. Natürlich ist es möglich, zu Fuß von München nach Berlin zu laufen. Aber mit dem Flugzeug ist es bequemer. Natürlich ist es möglich, auf die Datenkraken Google, WhatsApp & Co. zu verzichten und Alternativen zu nutzen. Aber es ist bequemer, sich den Mainstream-Plattformen anzuschließen.
Diese Haltungen sind harmlos und wären an sich völlig OK. Doch es kommt noch eine gefährliche Zutat hinzu: Die natürliche Verblendung, wenn ein Lebewesen vermeintlich am oberen Ende der Nahrungskette steht. Schon in der Bibel steht: „Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan.“ Das mit dem untertan machen haben wir wörtlich genommen und meisterhaft umgesetzt. Doch unsere Position am Ende der Nahrungskette müssen wir seit SARS-CoV-2 wohl nochmal überdenken...
Auf dem Humus des Alten kann Neues entstehen
Die Welt in der wir heute leben, ist alles andere als selbstverständlich. Es gab früher bereits andere Hochkulturen. Ob Dinosaurier oder das römische Reich. Doch sie alle sind im Laufe der Zeit verschwunden. Ausgestorben.
Das ist nicht dramatisch. Denn wenn eine Gesellschaft stirbt, fallen wir nicht in ein schwarzes Loch. Es entsteht kein Vakuum. Sondern Humus. Und auf dem Humus der toten Gesellschaft entsteht etwas Neues.
Wenn die Corona-Krise dazu beiträgt, dass Teile unserer gesellschaftlichen Werte sterben, dann wünsche ich mir vor allem eines: dass die Gratis-Mentalität ausstirbt.
Ramschpreise sind tödlich
Der Anspruch, dass alles gratis oder zu Ramschpreisen verfügbar sein muss, verseucht vieles. In Köln heißt es: Kost nix, is nix! Wer nicht bezahlt, weiß den Wert nicht zu schätzen. Und was gratis ist, wird schnell missbraucht.
Das gilt für öffentliche Toiletten, die zu Kloaken verkommen. Ich vergesse nie: Meine Frau und ich sind in einer schicken Lounge am Flughafen. Ich gehe aufs WC. Mir kommt ein Typ im schicken Anzug entgegen. Und finde eine - entschuldigen Sie die harte Ausdrucksweise - vollgeschissene Toilette vor. Ich frage mich: Hinterlässt der Typ Zuhause sein WC auch in diesem Zustand? In der Lounge ist es ihm anscheinend völlig egal. Vor der Tür wartet ja eine Dame, die die Toilette für ihn reinigt. Was für eine arrogante und menschenverachtende Haltung.
Was für gratis Toiletten gilt, gilt natürlich auch für viele andere Bereiche. Und erst recht auch für Dinge, die wir bezahlen. Schauen Sie sich mal einen Flieger nach einem Langstreckenflug an. Die Sitzreihen gleichen Müllhalden. Und ich habe den Eindruck, dass die teureren Plätze schlimmer aussehen als die in der Economy.
Falle oder Goldgrube
Während meines Studiums habe ich mich während der Volkswirtschaftslehre-Vorlesung immer gefragt: Warum hat alles einen Preis - nur die Natur nicht? Wozu das in den letzten Jahrzehnten geführt hat, können Sie in der Realität selber beobachten. Wir haben die Ressourcen der Natur schamlos ausgenutzt. Wohlstand und Fortschritt sind das Ergebnis. Eine wahre Goldgrube nicht nur für einzelne Superreiche, sondern für die Menschheit insgesamt. Doch diese vermeintliche Goldgrube ist eine Falle. Denken Sie nur an das Artensterben: Ob Tiere oder Plfanzen, die Vielfalt nimmt ab.
Leider leugnen manche Quellen nach wie vor, dass es so etwas wie einen durch den Menschen verursachten Klimawandel gibt. Prüfen Sie bitte, woher Sie - nicht nur während Corona - Ihre Informationen und Nachrichten bekommen. Die Produktion von Inhalten kostet Ressourcen: Zeit, Energie, Geld. Jedoch bezahlen wir für den Großteil nichts.
Sie werden einwenden: Wozu soll ich bezahlen, wenn die meisten Inhalte gratis angeboten werden? Wie zum Beispiel der Blog, den Sie gerade lesen.
Doch die Gratis-Angebote haben einen Haken: Sie sind nicht kostenlos. Die Produzenten müssen irgendwie anders an Ihr Geld kommen, um die investierten Kosten zu decken. Manche machen das, um durch Fake-News zu Ruhm und Ehre zu kommen. Andere missbrauchen Ihre Daten hinter vorgehaltener Hand (schauen Sie mal in die Doku “Cambridge Analyticas großer Hack”). Bei mir ist es zum Glück einfacher: Ich bekomme durch meine gratis Angebote Aufmerksamkeit und werde als Berater, Coach oder Vortragsredner gebucht.
Gratis funktioniert also.
Bereicherung für unsere Gesellschaft
Dennoch halte ich die Gratis-Mentalität für falsch.
Wenn die Natur und deren Verschmutzung nichts kostet, werden wir unseren Lebensraum irgendwann zerstört haben.
Wenn Ärzte, Lehrer, Pfleger oder Taxifahrer auf die Stunde runtergerechnet zu schlecht bezahlt werden, wird irgendwann keiner mehr Lust haben, in solchen Berufen tätig zu sein.
Unsere kulturelle Vielfalt wird abnehmen, wenn wir nicht bereit sind, für Inhalte zu bezahlen. Ob Nachrichten, Zeitungen, Musik, Podcast, Blog oder Buch — die kostenlosen Angebote werden auf lange Sicht nur noch von denen produziert, die es sich leisten können.
Künstler, Autoren, Schauspieler, Musiker, die alle dafür sorgen müssen, dass Zuhause das Brot auf den Tisch kommt, können da nicht immer mithalten. Sie zahlen durch hohes Stresslevel, Sorgen und Ängste einen hohen Preis für die Hoffnung: Tausche Gratis gegen Buchung.
Manche können sich dieses Spiel irgendwann nicht mehr leisten und geben auf. Andere, die tolle Talente haben, mit denen sie unsere Gesellschaft bereichern könnten, fangen vielleicht gar nicht erst an.
Doch dadurch stirbt Vielfalt.
Aber für eine Gesellschaft gilt das gleiche wie für die Natur: Sie ist wertvoll, wenn sie vielfältig ist.
Vielfalt bedeutet, wenn wir nicht den Großteil unserer Lebenszeit in Büros verbringen, die wie Legebatterien für Funktionsmenschen aussehen. Wenn wir nicht nur dem Diktat von Wachstum und Effizienz unterliegen: höher, schneller, weiter.
Sondern wenn auch andere Werte unsere Gesellschaft auszeichnen: Kreativität, Verschwendung, persönliches Wachstum, Bildung, Chaos, Reflexion, Respekt, Ruhe und Besonnenheit zum Beispiel.
Vielfalt ist ein Wert, den wir uns als Gesellschaft leisten können. Das funktioniert nur, wenn wir Vielfalt wertschätzen. Doch dafür müssen wir bereit sein, für Vielfalt zu bezahlen.
Wollen Sie das?
Weitere Videos sowie meine Serie #CappuccinoFriday finden Sie auf meinem YouTube-Kanal.