Wir zeigen jeden Tag, wie glücklich, erfolgreich und souverän wir sind. Doch hinter dieser Fassade lauert unsere Angst, über die niemand offen spricht.
In meinen Coachings begegnen mir Menschen, die „es“ geschafft haben. Eigentlich. Es sind Unternehmer und Top-Führungskräfte. Sie verdienen sehr gut. Haben ein schickes Haus. Eine tolle Familie. Müssen beim Einkaufen nicht auf jeden Euro achten. Machen unvergessliche Urlaube. Sie leisten sich die neuesten technischen Gimmicks. Tragen teure Uhren. Fahre beeindruckende Autos. Und zu Ihrer Geburtstagsparty kommen 30-40, manchmal auch 100 Gäste. Sie stehen in der Mitte und Blüte ihres Lebens. Und sind dennoch unzufrieden.
Doch darüber sprechen sie normalerweise nicht. Denn diese Unzufriedenheit fühlt sich komisch an. Manche beschreiben sie als „gehetzt, getrieben, rastlos“. Andere als „besorgt und verunsichert“. Manche sogar als „verletzt, traurig, niedergeschlagen“. Aber solche dunklen Abgründe passen nicht in unsere moderne Gesellschaft. Hier zählt es, gut drauf zu sein. Zuversichtlich, optimistisch, dynamisch und motivierend. Stark und souverän. Bloß kein Weichei, Spielverderber oder Skeptiker sein.
Wenn wir den Statistikern glauben, ist die Welt im Laufe der Zeit viel besser geworden. Aber diese gute Botschaft ist in uns noch nicht angekommen. Tiefenpsychologische Couchgespräche von Meinungsforschern zeigen immer wieder – in den Deutschen brodelt Wut. Eine Wut, die durch Selbstkontrolle noch im Zaum gehalten wird – und bisher nur stellenweise ausbricht. Solche Eruptionen zeigen sich dann in Form von Krawall in Chemnitz oder den steigenden Wählerstimmen für die AfD.
Doch warum fühlen wir uns so? Ich sehe vor allem zwei Gründe, weswegen wir die glorreiche Moderne nur mit Angst und Wut genießen.
Legebatterien für Funktionsmenschen
Zum einen haben wir uns eine Kunstwelt geschaffen, für die wir nicht geeignet sind. Moderne Büro-Skylines sind zwar beeindruckend. Doch gleichzeitig erinnern sie mich an Legebatterien für Funktionsmenschen. Jeden Tag marschieren sie – schick verkleidet – in die Büros. Und dann geht der moderne Büro-Krieg los.
Die wesentliche Spielregel lautet: Wir gehen respektlos miteinander um. Aus Sorge, im rasenden Innovations-Wettrennen den Anschluss zu verlieren, wird mit Macht, Druck und Dominanz geführt. Alle sollen mutig sein und neue Dinge ausprobieren, aber keiner darf einen Fehler machen, denn sonst wird der Schuldige sanktioniert. In der Folge wird statt Klartext weichgespült und die Fahne in den Wind gehangen. Bloß nicht die Karriereleiter nach oben pinkeln. Und so herrscht in vielen Unternehmen ein Klima der Angst.
Intrigen und versteckte Spielchen machen den sowieso schon zermürbenden Arbeitsalltag auch noch kompliziert. Wir laufen nicht nur im Hamsterrad, sondern wir legen auch noch verletzende Hindernisse hinein und drehen gleichzeitig die Geschwindigkeit immer höher. Agile Methoden greifen um sich. Alles muss am besten gestern schon fertig sein. Wir leiden unter dem Instant-Virus.
Die Sehnsucht nach Ruhe
Doch bei all dem Lärm und der Geschwindigkeit sehnen wir uns nach Ruhe. Deswegen fahren wir als Ausgleich zum Bürowahnsinn am Wochenende „in“ die Natur. Da frage ich mich: wo waren wir denn während der Woche? Außerhalb der Natur? Wir haben uns von der Natur getrennt. Nicht nur im Sprachgebrauch. Sondern auch in unserem täglichen Verhalten.
Und wenn wir mal „in“ der Natur sind, bewegen wir uns auf Kunstschneisen, die wir in den Wald geschlagen haben. Diese nennen wir Wege. Denn zu viel Natur darf es dann doch nicht sein. Wenn es kreucht und fleucht, sticht und piekst oder einfach nur zu dreckig wird...
Doch wir merken bei all der sauberen Technik in unserer klinischen Kunstwelt: ohne Natur geht es nicht. Das spüren wir innerlich. Und holen uns dann wenigstens in bisschen davon nach Hause. Wir nennen das dann einen Garten. Doch der gefällt uns nur, wenn auch er klinisch sauber ist: die Hecke in Form, der Rasen akkurat – alles für ein optisch stimmiges Erscheinungsbild. Doch auch hier gibt es bereits tumorartige Auswüchse, wenn die Menschen ihren Garten statt mit Bäumen und Blumen nur mit Steinen “bepflanzen”.
Und so verlieren wir im technischen Fortschritt langsam immer mehr den Bezug zu uns selbst.
Fehlender Horizont
Wenn ich an meine Jugend zurückdenke, dann war es schon super modern, wenn ich mich morgens per Modem in eine Mailbox einwählte, um die Ergebnisse der NBA Playoffs runterzuladen. Das Ganze dauerte rund fünf Minuten. Für eine Tabelle mit Zahlen. Heute schauen wir bei 160km/h auf der Autobahn Videos im Smartphone an – und regen uns auf, wenn die Übertragung ruckelt.
Uns ist gar nicht bewusst, wie viel Rechenpower wir mit diesem kleinen Gerät in den Händen halten. Nämlich mehr, als damals ein Großrechenzentrum in Form eines ganzes Bürokomplexes zu bieten hatte. Mein Smartphone hat 128 GB Speicherkapazität. In den Rechenzentren standen damals waschmaschinen-große Kisten mit einer Kapazität von 500 MB. Heißt: mit meinem Smartphone habe ich 256 Waschmaschinen in der Hosentasche. Und dieser technologische Fortschritt passierte gerade mal in knapp 20 Jahren.
Digitalisierung, Internet der Dinge, Robotik, künstliche Intelligenz, Blockchain, Gentechnik – es gibt so viele unglaublich beeindruckende Durchbrüche in der Forschung. Mit einem atemraubenden Tempo werden wir von Innovationen überrannt.
Doch wozu eigentlich?
Warum brauchen wir all diesen Fortschritt? Ich habe nicht den Eindruck, dass wir hier als Menschheit einen Plan verfolgen. Im Gegenteil: es wird gemacht, was machbar ist. Und wenn es nicht machbar ist, forschen wir solange, bis wir doch einen Weg gefunden haben.
Wir benutzen die Technik nicht, um unser Leben zu verbessern. Es ist genau anders herum: der Fortschritt benutzt uns, um stattzufinden. Wir sind Werkzeuge der Evolution. Und wir stellen selber das Tempo immer höher, ohne zu wissen, in welche Richtung wir eigentlich laufen.
Mittlerweile können wir menschliche Stimmen digital nachbilden. Wir können Videos in Echtzeit manipulieren. Die humanoiden Roboter sehen seit Sophia immer mehr wie wir Menschen aus. Es naht der Tag, da wissen wir nicht mehr, ob wir mit einem Mensch oder einer Maschine kommunizieren. Wir werden nicht mehr wissen, was echt oder eine Fälschung ist. Fake News sind da nur der lächerliche Anfang.
Der technische Fortschritt wird uns mit ungewohnten Fragen konfrontieren:
Werden wir uns in Maschinen verlieben?
Welche Auswirkungen hat das auf unsere Seele?
Haben intelligente Maschinen und Roboter die gleichen Rechte wie wir?
Wer wird bevorzugt in einer Firma befördert: künstliche Intelligenz oder der Mensch?
Wie gehen wir mit Menschen um, die auf Grund des rasenden (!) Fortschritts keine Zeit haben, sich an den modernen Arbeitsmarkt anzupassen?
Dürfen Algorithmen über Personalfragen entscheiden – wer eingestellt, befördert oder entlassen wird?
Darf eine Maschine über unser Schicksal bestimmen – wenn Roboter als Polizisten arbeiten und von ihrer Schusswaffe Gebrauch machen? Oder wenn ein autonom fahrendes Auto in einen unvermeidlichen Crash gerät und sich nun aktiv dafür entscheidet, entweder das Leben der Insassen oder das der Fußgänger aufs Spiel zu setzen?
Uns fehlt als Gesellschaft der Horizont. Stattdessen diskutieren wir über den Diesel-Skandal, Brexit oder die Karriere des umstrittenen (Ex-) Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen. Wir brauchen keine Kosmetik auf dem Status-Quo. Wir brauchen dringend ein Bild der Zukunft. Das uns zeigt, wo wir hin wollen. Das uns Orientierung gibt. Das Investitionen bündelt. Das uns als Gesellschaft vereint. Das uns klare Leitplanken gibt, was wir wollen – und vor allem auch was wir nicht (!) wollen.
Beispiel: Sie erwarten Nachwuchs. Der Arzt sagt Ihnen, dass das Baby im Bauch einen Gendefekt hat und krank zur Welt kommen wird. Sie können dies durch Genmanipulation verhindern und ein gesundes Kind auf die Welt bringen. Finden Sie Genmanipulation jetzt richtig?
Es beginnt meist damit, dass wir etwas erfinden, um einen Missstand zu heilen. Oder eine Situation zu verbessern. Doch dann werden wir gierig. Wenn wir heilen können, können wir auch designen. Was wäre, wenn Sie durch gezielte Genmanipulation Ihrem Kind ein paar Verbesserungen „einpflanzen“: Mathe-Genie, Sprachtalent, attraktive Körpergröße, durchsetzungsstarkes Wesen, kräftige Muskulatur, ...
Um zu wissen, was geht – und was nicht gehen darf ! – brauchen wir ein Zukunftsbild:
In was für einer Welt wollen wir eigentlich leben?
Da es dieses Bild nicht gibt, rennen wir mit einem beeindruckenden Tempo orientierungslos durch die Gegend. Jeder macht das, was er machen will.
Ein unbegrenzter Liberalismus predigt uns: alles ist möglich. Just do it! Doch Liberalismus braucht Grenzen!
Fressen oder gefressen werden
Schauen wir nochmal in die Natur. Der Stärkere frisst den Schwächeren. Oder der Schlauere besiegt den Dümmeren. Gut ist, wenn Sie oben in der Nahrungskette stehen. Denn es gilt: fressen oder gefressen werden.
Aber wollen wir so leben? Wer beim technischen Fortschritt nicht mithält, fliegt einfach raus? Was machen Sie als Taxifahrer, wenn Sie morgen keinen Job mehr haben, weil das Taxi selbständig fährt? Sie arbeiten einfach als Big-Data-Spezialist – auch wenn Sie keine Ahnung von Computern haben?
Als ich in Karlsruhe mit dem Taxi zu einer Konferenz fuhr, brachte es der Fahrer auf den Punkt: „Ich suche mir einen anderen Job. Und wenn es nicht mehr legal funktioniert, muss ich mir eben andere Wege suchen, um meine Familie zu ernähren.“
Als moderne Zivilisation muss das doch besser funktionieren. Wir haben in Deutschland die soziale Marktwirtschaft. Marktwirtschaft allein bedeutet: fressen oder gefressen werden. Der Zusatz „sozial“ erweckt den Eindruck, dass wir uns dadurch vom Tier unterscheiden. Sozial bedeutet, dass wir eine Zivilisation gebaut haben, die durch Werte und Leitplanken dafür sorgt, dass Fortschritt stattfindet, ohne die Würde des Menschen zu verletzen. Dass Fortschritt nicht um jeden Preis stattfindet, sondern zum Wohle unserer Gemeinschaft. Wobei ich den Eindruck habe, dass die Tiere das Soziale schon von Natur aus einfach können – und vor allem auch besser machen als wir.
Die Angst in uns
Vor uns liegt irgendetwas, das wir nicht sehen können. Und das ist die Ursache für diese diffuse Angst in uns Menschen. Obwohl es gut läuft, spüren Sie dieses komische Gefühl in sich: irgendetwas stimmt nicht... Es ist die Ungewissheit. Dieser Nebel, der vor uns liegt. Wir wissen einfach nicht, was auf dem Weg in die Zukunft auf uns lauert. Und so kann Ungewissheit zu Unsicherheit führen. Doch auf jeden Fall schürt Ungewissheit die Angst.
Wenn ich an die Zukunft denke, dann sehe ich viele Chancen und unglaubliche Möglichkeiten, sich als Mensch zu entfalten. Die Technik wird uns ungeahnte Freiheiten und Potenziale schenken. Ein schönes Bild. Nur der Weg durch diesen Nebel der Ungewissheit, der weckt ins uns dieses komische Gefühl.
Und deswegen reden wir darüber nicht so gerne. Wir lenken uns lieber im Hier und Jetzt ab. Betäuben uns durch viel Arbeit, neue Projekte, hohe Geschwindigkeit, tolle Hobbies, Unternehmungen mit Freunden, Serien-Marathons auf Netflix oder die obligatorische Flasche Wein am Abend.
Doch Ablenken, Betäuben oder Kopf in den Sand stecken sind nicht die Lösung. Populisten oder Möchtegern-Gurus hinterherzurennen, die wie Brüllaffen ihre einfachen Lösungsparolen für komplexe Fragestellungen in die Welt posaunen, ebenfalls nicht.
Zukunft ist nicht vorhersehbar. Wir müssen sie gestalten.
Dieser Schwelbrand in uns hat auch sein Gutes: denn Unzufriedenheit ist der Motor für Veränderungen.
Und es ändert sich eine ganze Menge. Besonders zuversichtlich stimmt mich das, was ich aus den Gesprächen mit Jugendlichen mitnehme. Sie wollen oft keine „blinde“ Karriere um jeden Preis machen. In ihnen ist die Frage nach dem Sinn schon fest verankert. Sie wollen Karriere machen, indem sie etwas Sinnvolles für diese Erde, unsere Gesellschaft und andere Menschen tun.
Und dieser neue Mindset trifft auf eine Zeit, in der es endlich gesellschaftsfähig wird, sich selbständig zu machen. Unternehmen zu gründen und nicht stupide in die bestehenden Karrierepfade einzutreten. Diese neue Generation wird die Art, wie wir Wirtschaft und Zukunft gestalten, mit ihrer neuen Denkrichtung in eine sinnvolle Richtung lenken.
Doch dazu braucht es in unserer Gesellschaft wieder mehr Mut. Mut, den Mund aufzumachen. Eine Meinung zu haben, die auch unbequem sein darf. Wir brauchen wieder mehr besonnene Diskussionen, die hart in der Sache, und fair zum Menschen sind. In der wir den Menschen wieder richtig zuhören – nicht nur, was ihr Kopf sagt, sondern auch was aus ihrem Bauch kommt.
Denn nur wenn wir aufnehmen, was Menschen bewegt, können wir sie auch in eine sinnvolle Richtung führen. Das gilt in Unternehmen – wie auch in unserer Gesellschaft. Und dann haben wir auch eine Chance, dass wir den guten Inhalten wieder mehr Aufmerksamkeit schenken – und nicht den populistischen Brüllaffen.
Dazu brauchen wir keine Revolution von oben. Wir brauchen keine Merkel, keinen Papst oder andere Leitfiguren, die uns sagen, wo es lang geht. Zum Glück: denn es fehlen uns aktuell die starken Führungspersönlichkeiten, die Zukunft im Sinne von einer sozialen Marktwirtschaft gestalten wollen.
Das Gute ist: der notwendige Wandel kann auch “von unten” passieren. Indem jeder Einzelne sich an die eigene Nase packt, auf seine innere Stimme hört und dann als Vorbild vorangeht. Die Summe der Einzelmenschen und ihre Entscheidungen ergeben das Große unserer Gesellschaft. Wir entscheiden, durch das was wir jeden Tag tun – oder nicht tun, wie unsere Zukunft aussieht. Und die stärkste Kraft der Masse ist in einer Marktwirtschaft nunmal der Konsum.
In was für einer Welt willst Du leben? Und was tust Du heute konkret dafür?
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